Über die große Hilflosigkeit gegenüber der Lage im Nahen Osten und was wir daraus machen - Großbritannien und die deutschsprachige Welt im Vergleich. Oder: Ein Gespräch mit Yair Wallach, Professor für israelische Studien an der Londoner SOAS.
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Die mit konkurrierender Stabilität gefochtenen Stellvertreterdebatten verkommen so zur Verhöhnung derer, die körperlich konkret in die Gewalt jener Widersprüchlichkeiten verwickelt werden. Und mir ist schon bewusst, dass ich mich mit diesem Argument selbst auf das nächsthöhere Ross setze. Die moralische Eskalation züchtet diese Rösser, das ist der Punkt.
Nachdem mich die FM4 Redaktion wie gesagt eingeladen hatte, einen erklärenden Beitrag zur britisch popkulturellen Perspektive auf den Nahen Osten zu liefern, dachte ich mir also: Du wirst wieder einmal erklären müssen, wie gänzlich anders unsere Medienrealität ist, wie ständig präsent die unerträglich blutige Evidenz der Bombardements, eine permanente Herausforderung an die eigene Menschlichkeit. Aber darüber hinaus musst du hier endlich einmal die Metaebene verlassen. Und wenn du dazu selbst nicht genug weißt, dann frag eben wen Schlaueren.
Also hab ich mich am vergangenen Wochenende nach Hackney im Osten Londons aufgemacht, um eine (mir) vertrauenswürdige Stimme zum Thema anzusprechen. Yair Wallach, in Israel geboren und aufgewachsen, ist seit 2001 in London ansässiger Senior Lecturer an der SOAS, der School of Oriental and African Studies der University of London mit Spezialgebiet Israelische Studien, der in vergangenen Jahren als dezidierter Kritiker des Antisemitismus in der britischen Linken und Kulturszene aufgetreten ist. Man darf also behaupten, er weiß, wovon er spricht, nicht nur in Sachen Israel/Palästina, sondern auch in Bezug auf das Klima an Großbritanniens Universitäten.
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RR: Sie haben ja täglich mit Studierenden zu tun, und viele junge Menschen in Großbritannien nehmen für die Seite der Palästinenser:innen Partei. Finden Sie das problematisch oder verständlich?
YW: Größtenteils finde ich es verständlich. Wenn man sich Gaza ansieht, das ist eine der schlimmsten militärischen Kampagnen im 21. Jahrhundert. Die Zivilbevölkerung wird angegriffen, es gibt Zehntausende Tote und eine völlige Zerstörung der Lebensgrundlagen für zwei Millionen Menschen. Und angesichts der Tatsache, dass Israel als liberaler, demokratischer Verbündeter gesehen wird, ist es meiner Meinung nach nicht überraschend, dass die Leute darüber betroffener sind als über andere Krisen, die auf der Welt passieren. Objektiv betrachtet ist das, was im letzten Jahr vorgefallen ist, sehr ernst und auf gewisse Weise vergleichbar mit Syrien, aber in einem viel kürzeren Zeitraum und unter direkter Verwicklung von Europa, Großbritannien, den USA usw. Ich denke also, die Reaktion ist verständlich. Ich glaube, jede andere Reaktion wäre eigenartig.
RR: Ist es antisemitisch, wenn eine Band wie Massive Attack die Parole „Free Palestine“ verwendet? [Zur Illustration: Auf meiner österreichischen Facebook-Timeline (nicht lachen, Gen Z) scheint das quasi außer Debatte zu stehen, man spricht von „falsch abgebogen“ oder „Hamas-Fans“ - die britische Gratis-Zeitung Metro (ungefähres Äquivalent von Heute oder oe24) berichtete dagegen über Massive Attacks Engagement gemeinsam mit Fontaines DC und Young Fathers als „important cause“]
YW: Nein, überhaupt nicht. Man hat da ein Volk, das seit mehr als 75 Jahren von Besatzung und Vertreibung betroffen ist, und dies ist ein besonders zugespitzter Moment. Lassen sie es mich so sagen: Ein Antisemit kann „Free Palestine“ sagen, aber er würde dazu noch viele andere antisemitische Dinge von sich geben. Den Satz selbst kann ich nicht als Basis für so ein Urteil sehen.
RR: Sprechen wir vom Gebrauch des Wortes „Genozid“. Ist seine Anwendung auf die Kriegshandlungen in Gaza automatisch antisemitisch? In Diskussionen im deutschsprachigen Raum wird es nämlich so verstanden. Und während das G-Wort etwa im London Review of Books ganz selbstverständlich verwendet wird, wäre das in einem vergleichbaren Magazin im deutschsprachigen Raum undenkbar. Wie stehen Sie dazu?
YW: Es ist die Zerstörung von Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden und Infrastruktur, die Gaza unbewohnbar macht. Ob es nun die Absicht ist, buchstäblich alle Palästinenser:innen umzubringen oder nicht, der Grad an Zerstörung macht das Leben für die Bevölkerung von Gaza auf lange Sicht unmöglich. Das ist die Lage. Da ich mir der Sensibilitäten und Debatten über die Wortwahl bewusst bin, versuche ich mich nicht darin zu verzetteln.
Aber ich denke, wenn die Leute verstehen und fähig sind, sich damit auseinanderzusetzen, was passiert, dann ist der Grad and Zerstörung unbestreitbar. Und auch der Mangel an nötiger Hilfeleistung, medizinischer Versorgung und so weiter. Es ist sehr klar, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, und dass zumindest vonseiten mancher Militäreinheiten ein sehr bewusster Versuch vorliegt, den Ort unbewohnbar zu machen. Wenn man das tut, dann will man, dass die Leute entweder von dort verschwinden oder sterben. Und ich denke, das ist die wichtigste Sache, die man sehen muss.
Wenn man es gegen andere Episoden im 20. oder 21. Jahrhundert abwägt, die als Genozid bezeichnet wurden, wie zum Beispiel Bosnien oder Myanmar, dann denke ich: Ja, es lässt sich vergleichen. So gesehen habe ich also kein Problem damit, wenn Leute dieses Wort verwenden. Der Ausdruck an sich ist aber problematisch, und hier folge ich der Sichtweise von Dirk Moses, einem sehr einflussreichen Genozidforscher, der der Kategorie Genozid sehr skeptisch gegenübersteht, gerade weil sie zu dieser Art von Diskussion einlädt.
Rechtlich gesehen liegt die Latte für Genozid extrem hoch. Es ist eine sehr schlagkräftige Anklage, aber auch eine, deren Kriterien sich nur schwer erreichen lassen. Was ich vorziehe, ist, über genozidale Akte und Rhetorik zu sprechen, denn das ist leicht zu beweisen. Ich denke, man kann reichlich genozidale Rhetorik feststellen und Akte, die man begründet als genozidal bezeichnen kann. Was mir aber Angst macht, ist, was an noch viel Schlimmerem folgen könnte. Das ist meiner Ansicht nach wichtiger als die Wortwahl.
RR: Ich höre in meiner Wahrnehmung des deutschsprachigen Diskurses reichlich Stimmen, die bereits die Forderung nach einem Waffenstillstand als [Forderung an Israel zur Aufgabe seines Rechts auf Selbstbehauptung und somit als] antisemitisch interpretieren.
YW: Die Mehrheit der israelischen öffentlichen Meinung ist dafür, den Krieg zu beenden, um die Geiseln freizubekommen. Die überwiegende Mehrheit der Geiselfamilien bettelt um einen Waffenstillstand. Unter diesen Umständen zu sagen, die Forderung nach einem Waffenstillstand sei antisemitisch, ist aus meiner Sicht eine Travestie. Es bedeutet, dass die Leute, die das sagen, den Familien der Geiseln und der israelischen Gesellschaft nicht zuhören.
RR: Gerade in Ihrem Forschungsgebiet gab es Stimmen, die die Ereignisse des 7. Oktober gefeiert haben. Wie hat das auf Sie gewirkt?
YW: Ich kann die augenblickliche Reaktion mancher Menschen auf den Morgen des 7. Oktober nachvollziehen, wenn sie die Palästinenser:innen unterstützen und das vordringlich als eine Militärattacke sahen, um die Grenze zu durchbrechen und Israels Militär anzugreifen. Ja, ich kann sogar verstehen, warum manche Leute das feierten.
Aber für mich wurde bald offensichtlich, als ich Berichte aus den Orten sah, die angegriffen worden waren, dass die Hauptbetroffenen Zivilist:innen und Kibbutzim sein würden. Mit den Leuten, die weiterfeierten und ihre Aussagen nicht zurücknahmen, gibt es also ein klares Problem. Manche Leute nahmen es zurück, bei anderen dauerte es ganz schön lange, und viele Leute taten es gar nicht. Ihre Tweets, die die Attacke abfeierten, sind immer noch da, und das sind viel mehr, als ich gern gesehen hätte.
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RR: Man spricht von einem Klima der Angst unter Jüd:innen vor antisemitischen Übergriffen an den britischen Universitäten. Sie arbeiten selbst als Jude an einer Londoner Uni. Haben Sie Angst?
YW: Ich bin ein israelischer Jude. Ich bin in einer Mehrheitsgesellschaft aufgewachsen, in hegemonialen Kreisen dieser Gesellschaft. Daher hatte ich nie die prägende Erfahrung, als Teil einer Minderheit in einer nicht-jüdischen Gesellschaft aufzuwachsen, so wie Diaspora-Jüd:innen das kennen. Das bedeutet, dass ich mich weniger bedroht fühle. Wenn ich [Antisemitismus] begegne, macht er mich zwar zornig, aber nicht so sehr beängstigt. Ich hatte das Glück, in meiner Kindheit diese Art von Dingen nicht erlebt zu haben.
Ich habe persönlich keine Angst, nicht auf meiner Universität, nicht unter den Studierenden, nicht auf Demonstrationen. Aber ich kenne Freund:innen, Kolleg:innen und Familienmitglieder, die diese Angst aus guten Gründen sehr wohl haben. Ich kenne Leute, die bösartige, antisemitische Kommentare zu hören bekamen, die attackiert wurden, weil sie in der Öffentlichkeit hebräisch sprachen, oder auf der Straße angebrüllt wurden. Ich verstehe, dass sie Angst haben. Aber ich kenne auch palästinensische Kolleg:innen, die Angst haben. Und ich denke, das sollte man aussprechen.
RR: Wegen Islamophobie oder wegen anti-palästinensischem Rassismus?
YW: Beides, aber vor allem anti-palästinensischer Rassismus, insbesondere seit dem 7. Oktober. Manche Kolleg:innen sind extrem verwundbar und bedroht, werden verleumdet und attackiert. Ich habe das in mehreren Fällen erlebt. Ich versuche immer zu helfen, wo ich kann, aber beide dieser Dinge gibt es. Und ich denke, die Auswirkungen für die Palästinenser:innen können schlimmer sein.